Wir alle haben eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft. Wie lang letztere ist wissen wir zwar nicht, aber gehen wir mal davon aus, ein paar Tage reicht sie mindestens noch. Also noch genug Zeit für Ziele im Leben?
Auf der Suche nach dem glücklich sein.
Ungefähr 20 Jahre lang und da ich nun 47 Jahre alt bin, bedeutet das: fast mein gesamtes Erwachsenenleben, habe ich mich mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigt. Zuerst natürlich mit der Vergangenheit. Es galt jahrelangen sexuellen Missbrauch aufzudecken, das Gefühl nicht gewollt zu sein zu bearbeiten, Glaubensätze aufzulösen, mein „o.k. sein“ zu finden, glücklich zu werden. Was man eben so macht in der Szene der Persönlichkeitsentwicklung. Trainings, Seminare, Einzelsession.
Den Sinn im Leben gefunden
Und da ich die Arbeit liebte, habe ich nicht nur meine Vergangenheit damit aufgeräumt, sondern aus ihr meine Zukunft gemacht. Ich machte die Ausbildung zur Trainerin und später zur Therapeutin. Jetzt half ich anderen und ich war bereit die Welt zu retten. Mein Leben hatte eine Richtung, ich hatte den Sinn in meinem Leben gefunden und voller Motivation machte ich mich an die Arbeit. Ich hatte so unendlich viel Ziele in meinem Leben. Und damit ich das tun konnte, musste ich natürlich noch besser werden.
Die Motivation ein besserer Mensch zu werden
Ich habe Vision-Boards erstellt, Bücher gelesen, meditiert, hatte Mentoren, hab am meinem Mindset gearbeitet, ich habe vorausschauende Rückblicke geschrieben (oder war es eine rückblickende Vorausschau?) Ich habe meine Fähigkeiten weiterentwickelt, meine Gedanken beobachtet, Beziehungen aufgebaut, Freunde verloren, neue gewonnen.
Das Ziel im Leben: Menschen unterstützen
Ich habe mir Ziele im Leben gesteckt, die meisten davon nicht erreicht, aber einige schon. Ich habe geackert, andere unterstützt ich habe ganz und gar für die Zukunft gelebt. Für das Ziel im Leben, dass die Menschen wieder lernen zu fühlen. Alle Gefühle. Angst, Trauer, Wut, Freude. Ja, das war nicht ganz leicht in der „Lasst und alle Happy Sein“ Szene, aber es gab (und gibt sie) . Ich habe mit meinem Mann Matthias viele Ehe retten und ich wollte die Scheidungsrate in unserem kleinen Landkreis auf 10% senken.
Der Moment des Aufwachsens
Und dann. Dann bin ich aufgewacht. Ich war nichts anderes als der Esel, der die Karotte vor der Nase hat und ihr hinterhertrottelt. Auch noch eine selbstgewählte Karotte.
Wir hatten gerade unser Buch veröffentlich. Auch so ein Ziel im Leben, das ich unbedingt erreichen wollte. Und da stand es bei Amazon gelistet und der Verkauf lief weit besser als erwartet. Warn wir glücklich? Ja, für einen kurzen Moment. Aber da gab es ja noch so viel weitere Ziele.
Das Wachstum hatte ein Ende
Da war dieser Workshop, den ich für andere Persönlichkeitsentwicklungsbegeisterte gegeben habe. Den verschiedenen Lebensbereichen (Beruf, Beziehung, Freizeit, Kinder) verschiedene Werte zuordnen und da stand es bei Beziehung. Wachstum. Wie selbstverständlich, ohne nachzudenken, habe ich es hingeschrieben. Denn jahrelang hat man meinem Gehirn eingetrichtert, dass es im Leben darum geht: Zu wachsen.
Ein einfacher Strich ein neues Leben
Und ich dachte: „Was für ein Quatsch eigentlich?“ Wieso soll ich in meiner Beziehung wachsen? Weshalb kann ich mit meinem wundervollen Mann, der mich liebt, verehrt und anbetet, nicht ganz einfach nur glücklich sein und ihn und mich und uns genießen. Und mit einem einfachen Strich, habe ich Wachstum auf dem Zettel gestrichen. Mit radikalen Konsequenzen.
Im Hier und Jetzt gibt es keine Ziele
Seitdem interessiert mich die Vergangenheit nicht mehr und schon gar nicht die Zukunft. Jetzt ist die Epoche dran, die ich mein ganzes Erwachsenenleben völlig vernachlässigt habe: Die Gegenwart. Und in der Gegenwart gibt es keine Ziele. Da gibt es nur das Hier und Jetzt. Nur den Moment.
Den Moment genießen
Jetzt in diesem Moment sitze ich auf unserem riesigen Sofa, das Laptop auf dem Schoß, neben mir sitzt mein Mann, mit seinem Laptop und schreibt seine Dokumentation vom gestrigen Training mit Azubis. Wir hören Wings over Europe. Ich schreibe diesen Text, weil ich meinem Freund Holger versprochen habe, dass ich es mache. [anm.d.R.: und darüber freue ich mich sehr, liebe Dee!] Mehr ist gerade nicht wichtig. Ach doch: Ich bin glücklich und genieße den Moment.
Die Fähigkeit Glückseligkeit zu empfinden
Das ist übrigens das coole an der Gegenwart: Hier findet Glückseligkeit statt. Früher dachte ich, die kommt, wenn ich ein gestecktes Ziel erreicht habe. Aber das war eine Illusion. Wenn ich überhaupt ein Ziel erreicht habe, dann stand das nächste schon auf dem Programm. Schneller, höher, weiter mehr. Je größer das Ziel, je besser das Wachstum.
Ein ungewohntes Leben kennenlernen
Ich gebe zu: Wenn Wachstum und Zielverwirklichung so lange Bestandteil eines Lebens waren, dann ist es am Anfang echt etwas gewöhnungsbedürftig. Zumal es in meinem Fall eine ziemliche Vollbremsung war. Ich stand vor den Trümmern meines Selbst. 20 Jahre war mein Leben auf etwas ausgerichtet und plötzlich war alles anders.
Am Anfang hilft nur atmen
Es fühlte sich an wie ein freier Fall im schwarzen Loch. Es gab nichts mehr zum Festhalten, nichts mehr, an dem ich mich orientieren konnte. Alles, was ich wusste war, dass ich atme. Und so ging ich einfach von einem Atemzug zum nächsten. Schon allein das bringt dich automatisch in die Gegenwart. Denn ganz ehrlich: Im Moment ist atmen eigentlich das einzige, was du brauchst um glücklich zu sein.
Ich liebe mein neues Leben
Aber es hat sich gelohnt das ungewohnte auszuhalten, sich dem Nichts-mehr-tun-müssen hinzugeben, darauf vertrauend, dass das Leben mich führt. Ein radikaler Kontextwechsel von
„Du bist für alles verantwortlich, was in deinem Leben ist.“
Zu
„Dein Lebensfilm ist bereits fertig abgedreht, also lehn dich zurück, entspann dich und genieße den Film.“
Ich weiß noch nicht mal, welcher Kontext „richtig“ ist, ich kann nur sagen, dass es sich mit dem zweiten weitaus besser lebt. Zumindest wenn das Kontrollmonster, das sich im ersten natürlich wohler fühlt, sich beruhigt hat.
Alles ist gut – auch ohne Ziele im Leben
Natürlich heißt das alles nicht, dass ich jetzt nur noch auf meinem Sofa sitze und nichts tue. Sobald es wieder warm ist, sitze ich auf meiner Hollywoodschaukel.
Spaß beiseite: Ich arbeite auch weiterhin als Trainerin und Therapeutin. Mein Mann und ich retten gemeinsam immer noch die eine oder andere Ehe. Ich lebe. Aber ich habe keine Ziele im Leben mehr. Ich nehme, was sich mir anbietet und das Leben bietet mehr als genug.
Am Anfang war die Absicht
Was ich immer noch habe, jedes Jahr ist eine Absicht. Im Unterschied zu einem Ziel, das ich erreichen muss, für das ich was tun muss, das ich „verfolge“, ist eine Absicht, eine passive Sache. Sie ist nichts anderes als eine Ausrichtung für mein Leben oder eine Einladung, dass etwas in mein Leben kommen darf.
Dieses Jahr lautet sie: Ich genieße mein Leben.
Und das tu‘ ich. Punkt. Nicht mehr und nicht weniger.